Brüche
Poesie kann gesellschaftliche Vorgänge und Veränderungen wie mit einem Echolot messen. Sie gibt ihnen Sprache und Sinn-Bild und im Vers eine Form. Vor unseren Augen geschehen Umbrüche, Zusammenbrüche oder Aufbrüche. Gesellschaftliche Konventionen und Gesetze geraten unter Druck und werden auf ihre Gültigkeit hin geprüft oder, sollten sie nicht genügen, hinweggefegt. Das geschieht heute weltweit. Was zivilgesellschaftlich unverzichtbar ist, bedeutet mitunter schmerzliche Dehnung gesellschaftlicher Konventionen. Umgekehrt markieren Brüche auch die Stellen, von denen aus die Welt neu vermessen wird. Auch darauf reagiert Poesie. Entdecken und erkunden Sie in diesem Sinne neun Tage lang poetische Zuspitzungen:
Von Weltklang, der großen lyrischen Eröffnungs-Sichtung der Welt, bis hin zum Lyrikmarkt am Ende des Festivals lassen uns 150 Dichterinnen und Dichter, Künstlerinnen und Künstler in 49 Veranstaltungen an ihren Sprach- und Sprechwelten teilhaben. Gesellschaftliche Brüche sind Voraussetzungen für zivilen Ungehorsam jedweder Art und auch zur Stelle, wenn Religionen neu betrachtet werden. Angesichts dramatischer politischer Erschütterungen ist uns die Beschäftigung mit Dichtkunst aus der Ukraine und der Türkei in diesem Jahr besonderes Anliegen. Zu einer Collective Task haben sich Dichter und Künstler aus New York und Deutschland verbunden, in einer Zusammenschau tritt uns der 1. Weltkrieg gleich doppelt entgegen: als internationales Textgeschehen um seinen Ausbruch herum vor 100 Jahren und in Reflexionen darauf, die heute in sieben Ländern entstanden sind und das Jahrhundertereignis zerr-spiegeln. Der diesjährige VERSschmuggel-Übersetzungsworkshop schaut in Wucht und Schönheit schottischer und deutscher Verse. Mit der Rolle der Stimme beim Schreiben und Sprechen von Gedichten befasst sich das Kolloquium, und eine Ausstellung widmet sich ebenso diesem feinnervigen Thema. Eine Karawane von Spoken-Word-Autoren erreicht uns aus Afrika und trifft hier neben der deutschen Szene auch auf Meister und Meisterinnen ihres Fachs aus Indien und Brasilien.
Die ganze Stadt ist mit Poets’ Corner in das poesiefestival berlin einbezogen. Kinder und Lehrer haben aktiv teil an den Erkundungen von Sprache. Festivalmacher aus vielen Ländern diskutieren Zukünftiges ebenso wie die Jahresversammlung der Lyrikline-Partner.
Allen Teilnehmern und Besuchern wünsche ich ein wunderbares Festival und bedanke mich herzlich bei allen Partnern und Sponsoren, insbesondere beim Hauptstadtkulturfonds und der Akademie der Künste.
Dr. Thomas Wohlfahrt
Leiter der Literaturwerkstatt Berlin und Direktor des poesiefestival berlin