aus: Louise Dupré: Plus haut que les flammes
Éditions du Noroit, Montréal, 2010 / Éditions Bruno Doucey, Paris 2015
für das ZEBRA Poetry Film Festival übertragen
aus dem kanadischen Französischen von Margrit Klingler-Clavijo
Dein Gedicht ist
aus der Hölle hervorgekommen
eines Morgens, als die Worte dich
leblos
mitten in einem Satz gefunden hatten
eine Hölle der Bilder
im Staub der Öfen
wühlend
und die Seelen
unwiederbringlich
unter deinen Schädel geflüchtet
es war nach dieser Reise
von der du zurückgekehrt warst
die Augen ausgebrannt
vom nichts gesehen haben
nichts
außer Resten
wie man es
von einer Urne sagt
die man aufbahrt
die Zeit stillen Gedenkens
vor ein paar Schaufeln Erde
denn das Leben geht weiter
selbst auf unbewohnbaren
Böden
das Leben ist das Leben
und man lernt
Ausschwitz oder Birkenau
in einem Vers unterzubringen
wie einen unerträglichen
Atemzug
Verzweiflung soll
die Löcher deines Herzes
nicht vergrößern
du bist nicht allein
neben dir
ist ein Kind
das sich zuweilen
die Augen ausweint
und du willst sehen wie es
lacht
mit ausgeweinten Augen
man braucht das Lachen
um den Morgen anzugehen
und du frischst deine Freude
wie eine Gymnastikübung auf
indem du die Hand
zu den Zweigen eines Ahornbaums
hinter dem Fenster erhebst
wenn eine Schwalbe
Frühling machen will
ist da dieses Kind
das du nicht erwartetest
gekommen mit seinen Bronchien
zu eng
um das Licht zurückzuhalten
dieses Kind aus dem Schmerz geboren
wie aus einer Geschichte
ohne Erbarmen
und du siehst es eine
Wolkenherde in einem
Baumwollbuch liebkosen
und du denkst
an die winzigen Kleidungsstücke
der Kinder von Auschwitz
in Auschwitz vernichtete man
Kinder
die gern
Wolkenherden liebkosten
ihre kleinen Mäntel, ihre Kleider
und dieses kaputte Fläschchen
in einem Schaukasten
dieses armselige Gedenken
ohne Särge
und die Besucher
in geschlossener Reihe
bei künstlicher Beleuchtung
während du wartetest
mit gebeugtem Körper
als ob die Welt plötzlich
auf deinen Schultern ruhte
mit ihren kaputten Fläschchen
die Kinder von Auschwitz
waren Kinder
mit durstigen Mündern
wie das Kind
neben dir
sein Hunger, sein Durst
und Versprechen die du nur
mit Mühe halten würdest
wenn es nur um dich ginge
doch hier ist es die Welt
und ihr Wahnsinn
Gestank von rohem Blut
und Hunde auf ihre
Beutestücke angesetzt
selbst wenn du
deine Freude
wie eine Gymnastikübung auffrischst
oder ein Gebet
ohne Hoffnung
gibt es Gebete
für die Frauen
ohne Hoffnung
die über die man sagt die Stimme
sei mit dem Unglück verknüpft
das in Bücher einfließt
denn die Erde hat
mehr Unheil
als Segen gekannt
Insekten -
oder Feuerregen
Regen aus Steinen
mit denen man Ehefrauen steinigt
Regen aus Granaten
auf die Städte abgeworfen
wie Eier
Regen aus Regen der unaufhörlich
alles überflutet
zum Glück gibt es Archen
für die Frauen
ohne Hoffnung
und die kleinen Jungen
auf Wolkenhöhe
die ihre ersten Träume
reiten
es gibt Sommer
wo das heidnische Gelächter
an den Pupillen abprallt
an den Kirmestagen mit Karussellen
die weiß
Gottes Trugbild schwenken
da Gott nur eine Erinnerung
an die stille Messe ist
niemand
hat Mitleid
mit dir hier
noch mit der Welt oder den Leichentüchern
die den Himmel
wie Gesichter aushöhlen
du gehörst zur erdigen
Erde
der Grabstätten
und Tiere
du hörst den Schrei der Messer
nicht mehr
um dich zu ernähren
seit der Zeit der Höhlen
wo du deine Kleinen in Schutz brachtest
bevor du aufrecht stehen
konntest
stehen, das tust du jetzt
und aufrecht
dieser Kleine neben dir
der dich nachahmt
und die Marter der Schlachthöfe
noch nicht kennt
du wiederholst ihm, er soll essen
so wie du selbst gegessen hast
seit du Milchzähne hast
das Leben beginnt
mit den Kiefern
und den Ochsen die an
den Fleischerhaken der Märkte hängen
du siehst das hübsche Kleid deiner Mutter
am Freitag wieder
und deine feuchte Hand in ihrer
weil man dich nicht loslassen durfte
wie diese Kinder
auf den Fotos von Birkenau
kurz vor der Trennung gemacht
ihre herzzerreißenden Schreie
die noch die Felder
heimsuchen
wie ein Wind
vom Tod zurückgekehrt
hinter der Schande
gibt es auch Mütter
mit zersprungenem Herz
[…]
Und du willst
tanzen lernen
auf dem verkohlten
Seil der Worte
du bist hier reines Wollen
reine Absicht, gewaltige
Entschlossenheit
abgeschossen
wie ein Pfeil
oder eine Liebe
die zu weitreichend für dich ist
du bist hier bereit
zu tanzen
jenseits deiner Angst
[…]
du tanzt tagsüber
bis zur Größe des Kindes
in deinen Armen
seine Fragen schon
verwundet
und deine Liebe
die nie wird antworten können
du hast keine Lektion
zu erteilen
kein Land zu verheißen
du bist kein Prophet
und das weißt du
nur eine Bettlerin
der Freuden
ständig verzerrt
wie Münder
in Francis Bacon Rot
eine Meteorologin
auf der Lauer
im Auge eines Zyklons
so gewaltig dass er
Bäume und Träume ausreißen kann
doch du stehst da
und du tanzt
mit diesen Schmetterlingen
die in deinem Herz verborgen sind
statt andere
Zufluchtsorte zu finden
bist du hier stark genug
um in dir
die Welt aufzunehmen
für immer in Trauer versetzt
sie zu tragen, sie zu wiegen
so lang du leben wirst
trotz deines tropischen
Herzes
hast du noch genug Rhythmus
um das Kind
fliegen zu lassen
im Zentrum des Zyklons
denn hier ist die Zeit
blau und Nacht
mit den Sternen
und schauen willst du
hoch
höher als die Mauer
deines Auges
du willst dorthin schauen wo
die Gesichter noch Gesichtern
ähneln
und die Städte Sätzen
die nicht mehr
auf den Lippen vergehen
es gibt doch eine Syntax
um ruhig zu reden
tief drin in
deinem verletzten Atem
oder vor den
Grabsteinen
wenn der Boden so bröckelig wird
daß die Toten anfangen
sich in ihrer Stimme zu regen
dann kannst du hören
wie die Klage der Welt
heraus bricht
wie eine Physik
des Schmerzes
ein Wissen
das es zu verstehen gilt
vor deinen letzten Bildern
trotz deines tropischen Herzes
bist du nicht zu alt
für die Lektion
der Winde die dich einkreisen
sie kreisen dich ein
doch du tanzt
mit dem Kind und der verrückten Hoffnung
dem Gemurmel der Erde
zu antworten
die Erde erwartet
weder Reue noch Gebet
sie will den Zyklus
der Saaten
und Ernten wiederfinden
und das einfache Wasser
das auf den Frühling gegossen wurde
und die spiralförmigen Salbungen
auf dem Kopf der Neugeborenen
sogar zitternd, lässt eine Geste
mitunter das Fleisch
der Worte wieder aufleben
erstickt
unter dem Staub
wie ein Schatten
Testament
das du in dein
eigenes Fleisch ritzen würdest
die Erinnerung an die Toten
sucht eine Ruhestätte
sie bittet dich
zu trinken
und zu tanzen
und du lässt sie
mit dem Kind fliegen
berauscht von der Freude
dieser Kreise
die du erweitern willst
bis sie die robusten Wände
deiner Angst
erschüttern
ungeachtet der möglichen
Rache der Winde
oder Vulkane
ungeachtet deiner Müdigkeit
in deinen Armen
ist das Kind das dich anschaut
und selbst ohne Mut
bleibst du eine couragierte
Frau
eine Frau der offenen Fenster
in der Lage
über den Tag hinauszugehen
deine Knochen sind fester
als du glaubst
sie verraten dich noch nicht
und du wirst die winzige Welt
die sich an deinen Hals klammert
nicht verraten
wie ein Geheimnis
das dich lachend
anfleht
weiter
zu tanzen