14.3.2016

Lyrik-Empfehlungen 2016 veröffentlicht

Welche Gedichtbücher sind besonders bemerkenswert, interessant, überraschend? Kritiker, Lyriker und Vertreter literarischer Institutionen empfehlen zwölf deutschsprachige und zwölf ins Deutsche übersetzte Gedichtbände – ausgewählt aus den Neuerscheinungen von Anfang 2015 bis März 2016. Abgegeben haben die Empfehlungen in diesem Jahr: Michael Braun, Heinrich Detering, Ursula Haeusgen, Harald Hartung, Florian Kessler, Michael Krüger, Kristina Maidt-Zinke, Holger Pils, Marion Poschmann, Monika Rinck, Daniela Strigl und Thomas Wohlfahrt.

Die Lyrik-Empfehlungen werden jährlich zur Leipziger Buchmesse veröffentlicht. Sie werden herausgegeben von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, der Stiftung Lyrik Kabinett und der Literaturwerkstatt Berlin/Haus für Poesie in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Bibliotheksverband. Gefördert von: Deutscher Literaturfonds

Die Lyrik-Empfehlungen 2016 finden Sie hier: www.lyrik-empfehlungen.de

Veranstaltung zu den Lyrik-Empfehlungen 2016 in der Literaturwerkstatt Berlin/Haus für Poesie

Mittwoch, den 23. März 2016, 19 Uhr
mit den Autoren Swantje Lichtenstein, Eugeniusz Tkaczyszyn-Dycki und Christoph Wenzel sowie Texten von Bengt Emil Johnson
vorgestellt von Holger Pils, Stiftung Lyrik Kabinett, Marion Poschmann, Autorin, und Thomas Wohlfahrt, Literaturwerkstatt Berlin/Haus für Poesie

Literaturwerkstatt Berlin/Haus für Poesie
Knaackstraße 97 (Kulturbrauerei), 10435 Berlin
Eintritt: 6/4 Euro

Empfehlung von Michael Braun
Tumor linguae
Eugeniusz Tkaczyszyn-Dycki
Aus dem Polnischen von Michael Zgodzay und Uljana Wolf
Edition Korrespondenzen, Wien 2015, 222 Seiten

„Ich habe mit dem Tod geredet, und er hat mir versichert, es gebe weiter nichts als ihn.“ Dieser Satz Jean Pauls kommt einem in den Sinn, wenn man sich den düsteren, die Schmerzzonen des Lebens ausleuchtenden Gedichten des polnischen Lyrikers Eugeniusz Tkaczyszyn-Dycki widmet. „Tumor linguae“, die Wucherung der Sprache, sie führt ins Elementare, zum Kern unserer Existenz, wo alle Illusionen zerfallen sind und wir in das Kraftfeld des Todes geraten. Diese Gedichte sprechen von den Versehrungen des Körpers und der Seele – und verbinden sich dennoch zu einem ergreifenden Gesang des Lebens: „schizophrenie ist ein haus / gottes seit ich erkrankte / vielfach und erwachte / im fieber der liebe“. Die „Lieder aus Notwehr“ beschwören in der Art einer Litanei die Krankheit der Mutter, den Krebstod des Lebensgefährten, sie locken uns an Orte, wo der Schrecken wohnt. Für die Liedhaftigkeit dieser todessüchtigen Verse haben Michael Zgodzay und Uljana Wolf in ihrer Übersetzung überzeugende Lösungen gefunden.

Empfehlung von Holger Pils
Kommentararten
Swantje Lichtenstein
Verlagshaus J. Frank, Berlin 2015, 112 Seiten

Der Band bietet Einblicke in das Laboratorium der Swantje Lichtenstein: Sprachkritik, Weltzweifel, Wissenschaftsparodie, nicht zuletzt Humor. In einer Zeit, in der eine Sehnsucht erwacht nach dem ›Originären‹, das unter einem Berg von Kommentaren, von sekundärem Gerede verschüttet zu werden droht, sortiert Swantje Lichtenstein „Kommentararten“, die zeigen, dass auch Poesie, auch Kunst Kommentar ist. Zugleich ist die Poesie selbst wieder „Auslegware“, zieht Kommentare nach sich. Verschiedene poetische Formationen spielen das durch: Im Kapitel „#Sätze_“ lassen sich die Wortblöcke als Bilder wahrnehmen, in „#Avatare_“ umspielt Lichtenstein als Kommentarmöglichkeiten „Kommos“, „Kommentationen“, „Scholien“ und „Interpretament“. „#Neudef_“ bietet weichgespülte und doch festgefügte Formeln („DIE ROYALEN FARBEN PUR / BESTIMMEN DIESE SCHMUCK- PUR UND VIOLETT / STÜCKE“), denen Lichtenstein fragende, tastende, poetische Antworten gegenüberstellt. In „#Tagen_“ dann tritt ein Ich auf, das eigenes Erleben kommentiert. Eine Lese-Anleitung für all das: „Was man dann daraus hervorliest, das nehme man an. / Nehme man ans Herz und lasse es dann / ganz langsam ins Hirn plumpsen. Nicht alles auf / einmal.“

Empfehlung von Marion Poschmann
Bengt Emil Johnson
Das Fest der Wörter. Aus dem Sumpf
Aus dem Schwedischen von Lukas Dettwiler. Mit einer Nachschrift von Staffan Söderblom.
edition offenes feld, Dortmund 2015, 116 Seiten

Eine Wanderung durch den Sumpf. Vogelschau. Wissenschaftlich präzise Naturbeschreibung. Emphatische Evokation von Nachtigallengesang. Sprachkritik und Wahrheitssuche. Misstrauisch bohrende Meditationen über den Tod. Selbstironie und lakonischer schwarzer Humor. Wie passt das alles zusammen? Bengt Emil Johnson begann seine Lauf  bahn mit Lautpoesie. In seinen grandiosen späteren Gedichten, die sich konventionellerer Sprechweisen bedienen, aber dafür ein experimentelleres Denken pflegen, strebt das lyrische Subjekt nach nichts Geringerem als nach der Selbstauflösung als Erkenntnisform. Natürlich scheitert es meist tragikomisch an der Trägheit der Materie und der Widerstandskraft des Ichs, aber dennoch erzeugt die Brillanz der Sprache immer wieder berückende Momente des Gelingens. Bengt Emil Johnson, einen der bedeutendsten schwedischen Dichter, gilt es hierzulande erst noch zu entdecken – ebenso wie den neugegründeten Verlag edition ofenes feld, der sein erstes Programm der Lyrik widmet.

Empfehlung von Thomas Wohlfahrt
lidschluss
Christoph Wenzel
Edition Korrespondenzen, Wien 2015, 96 Seiten

„WIR SIND EIN FUNDBÜRO ..., wir sind chroniker, chronisten“. Der so spricht, scannt, was ihm vor das Auge, innen wie außen, oder ins Herz gerät, auch wenn man hier „ohnehin sein herz unter der zunge / trägt“. Das Rheinische Braunkohlerevier und Westfalen sind Christoph Wenzels Heimat. Und wie ein „Lidschluss“ Erinnerungen auf die Linse des Auges projiziert, fängt er mit Sprachfindungen ein, was dem bloßen Betrachter öde und fad erscheinen mag: „die felder / dazwischen, raps, raps, raps und mais“. Sezierend klar sind seine Sprachbilder: „WESTFALEN WIEGT SCHWER, hier, / heißt es, lagert das lachen / bei den kartoffeln: kühltrocken im keller.“ Die Droste steht im Raum mit unterkühlter Emphase oder Willy Brandts Umweltrede von 1961. Wenzel erschreibt der geschundenen Landschaft ohne Dorfleben ihre Würde. Landschaften und die Menschen, die in ihr leben, spiegeln einander: „hier kennt noch jeder jede linde / jeden stammhalter persönlich“, „ungelenkig lehnt ein besen / an der wand, erbschaften im hauseingang, scherben zu haufen / wie braunes, trockenes laub“. Selten sind mir unaufgeregte Landschaften und ihre Menschen so aufregend erschienen.




Lyrik-Empfehlungen 2016 veröffentlicht Thomas Wohlfahrt
Thomas Wohlfahrt