6.10.2022

Festrede für Thomas Wohlfahrt von Brigitte Oleschinski am 29. August 2022

Das ganze Pilzgeflecht der Poesie

Festrede für Thomas Wohlfahrt

gehalten von Brigitte Oleschinski

am 29. August 2022 im Haus für Poesie

 

Liebe Gäste –

lieber Thomas –

 

Wer will das schon, aufwachen an so einem Spätsommertag,

nach wieder so einem Hitzesommer, und pengg!,

sind dreißig Jahre um – dreißig Jahre Erfolgsgeschichte,

immerhin, aber genau das passiert hier gerade:

Du wachst auf, und diese drei Jahrzehnte sind um!

 

Dabei hat es doch so atemberaubend angefangen,

an einer Epochenschwelle, der Nahtstelle des geteilten Europa,

Berlin zwischen Ost und West, plötzlich ging etwas voran:

Geschichte wird gemacht! – als hätten die Punkstimmen

aus der Neuen Deutschen Welle rechtgehabt, ein Taumel

von Paradoxen, und sogar „der Westen“ hätte rechtgehabt –

irgendwie –, aber vor allem hatte die Freiheit recht!,

und die Kunst!, und die Poesie!, plötzlich alles

so elektrisierend bunt hier!

 

Oder so werden es die Dabeigewesenen später beschreiben,

mit immer noch leuchtenden Augen, jedenfalls die Dabeigewesenen,

die gerade im richtigen Alter waren, um gesellschaftlich

und ästhetisch etwas Neues anzufangen, die also,

denen in den politischen Umbrüchen nicht gerade die Felle

davonschwammen oder über die Ohren gezogen wurden,

sondern die, die im richtigen Augenblick

über einen Flur in der Berliner Kulturverwaltung liefen

und sich starkmachten für ein wildes Literaturprogramm

in einer Villa am Majakowskiring,

damit aus einer alten DDR-Pfründe

ein Haus für Poesie wurde.

 

Was ist das, ein Haus für Poesie?

Ein Ort. Ein Programm. Ein Haushalt.

Es ist das, was uns gefehlt hat, bis wir es endlich hatten.

Bis wir, learning by doing, da hineingewachsen sind.

Wir alle miteinander:

Die Poesie, das Publikum, das ganze Pilzgeflecht.

 

Dieses Wir besteht aus sovielen Fiktionen,

dass wir eine Trillion Pronomen dafür finden müssten.

Stattdessen entdecken wir darin die Weltpoesie, die in ihren unzählbaren Stimmen, ihren unzähmbaren Formen,

Klängen, Verknüpfungen ganz real ist. Oder so real,

wie wir sie machen.

 

Ein Ort, ein Programm, ein Haushalt.

 

Thomas Wohlfahrt kommt Anfang der Neunzehn-Neunziger

nicht aus dem Nichts, auch seine Talente kommen nicht

aus dem Nichts, sie haben sich in zähem Widerstand

gegen die DDR-Provinz in Thüringen entwickelt.

Gerüchtweise, stellenweise verrauscht, weiß ich davon:

Klavierunterricht. Die Gruppenübung Singekreis.

Der Kirschbaum, an dem ein schlacksiger Jugendlicher

aus dem Hausarrest hinabklettert in die Freiheit der Nacht.

Literaturstudium und Promotion bringen ihn bis in die ostdeutsche

Akademie der Wissenschaften und dann, im Dissens,

noch vor dem Ende der DDR nach West-Berlin.

 

Etwas anzetteln, war eins der ersten Stichworte,

die ich für die Festrede notierte.

 

Genau, wer will aufwachen und eine Festrede

halten dürfen ..., als so halb und viertel Dabeigewesene

in fast dreißig Jahren, mit dem Zettel Dichterin um den Hals.

 

Ich empfinde den Ausdruck Anzetteln als positiv –

ein sehr positives Verhältnis zu Zetteln eben –,

auch wenn die Etymologie uns eines Schlechteren belehren will:

Es geht beim Anzetteln ursprünglich gar nicht um Papier,

sondern um Webfäden auf dem Webstuhl, um Ausbreiten und Verknüpfen also, es wird aber seit langem im übertragenen Sinn

eher abwertend gebraucht.

Was ich hier mit Anzetteln meine, ist im übertragenen Sinn

– ein eminent poetisches Manöver – natürlich etwas anders:

 

Ich meine den Aufruhr, der entsteht, wenn Poesie sich nicht nur

als stiller Lesegenuss von vereinzelten Büchermenschen versteht,

sondern zurückkehrt in den gesellschaftlichen Raum,

den gesellschaftlichen Prozess.

Zurück zum Mündlichen der Poesie!,

rief jedenfalls der Aufruhr am Majakowskiring,

er rief auch etwas von Bühne und Stimme

und von sekundärer Oralität,

und dann streunte das Programm in alle Richtungen hinaus

zu den Rändern von Musik, von Tanz,

von angrenzenden Wissenschaften und den Künsten jeder Farbe,

jeder Sprache, jeden Geschlechts.

Crossover!, riefen wir, Crossover!, oder auch:

Experiment! Sound! Performance!

Und unbedingt: Diskurs. in utopisches Summen.

Eine Biolumineszenz für Ohren.

 

Was ich damit meine, können Sie nachhören in einem Hörfeature auf dem Kanal für Poesie auf der Website des Hauses.

 

Aber Ideen organisieren sich nicht von allein.

Ein Ort, ein Programm, ein Haushalt.

 

Was brauchen wir dafür?

Das ist eine Frage, die ich als Thomas-typisch im Ohr habe.

Sie konnte überall aufploppen:

Beim Wein nach einer Veranstaltung, jederzeit am Telefon,

auch unterwegs zwischen Tür und Angel, im Flieger

nach Beirut oder Barcelona.

Was brauchen wir dafür?

Flüge, Visa, eine Großleinwand?

Mehr Übersetzungen? Mehr Technik?

Einen frisch verlegten Tanzboden?

Ich kenne wenige Menschen, die sich so entschlossen

bei anderen Rat holen wie Thomas Wohlfahrt.

Die Frage setzt noch kein fertiges Konzept voraus,

sondern nimmt Maß am Unmöglichen:

Warum nicht einen Literaturexpress quer durch ganz Europa

schicken? Warum nicht den Weltklang auf einer Freilichtbühne

am Potsdamer Platz? Warum nicht die lyrikline als internationale

Poesie-Website weltweit ins Netz bringen?

 

Im vergangenen Jahr habe ich oft in das – noch unaufgearbeitete –

Tonarchiv des Hauses für Poesie hineingehört, in drei Jahrzehnte

Mitschnitte von unwiederholbaren Ereignissen, und immer wieder

hörte ich Thomas' Stimme, wie er Veranstaltungen moderierte

und Dichter:innen vorstellte:

immer begeistert, wenn er von Poesie und Projekten spricht,

immer klirrend, wenn er der Politik die knappen Kulturhaushalte

vorrechnet, immer aufrichtig, wenn er sich im Anschluss

für Förderungen und Sponsoring bedankt.

Das ist eine Gabe für sich.

Ich glaube, dass nicht nur in Berlin, sondern bundesweit,

europaweit, weltweit die Verantwortlichen für Kulturpolitik

diese beharrliche Stimme nicht mehr aus dem Kopf

bekommen haben.

 

Ideen organisieren sich nicht von allein. Sie organisieren sich

nichtmal mit Geld von allein, selbst wenn jemand wie Thomas

so erfolgreich darin ist, diese vielfarbigen Gelder von Fall zu Fall,

von einer Unmöglichkeit zur nächsten, immer neu einzuwerben.

Das ist auch eine Gabe. Es braucht aber dazu ein Team

auf Augenhöhe, es braucht wechselseitige Loyalität

und Mitverantwortung.

 

Wenn ich dazu jetzt bloß andeute, liebe Christiane:

daran hast auch du einen enormen Anteil,

dann fehlen hier natürlich Dutzende weiterer Namen,

von den einzelnen Programmverantwortlichen

über die komplexe Technik bis zu Büro und Buchhaltung.

Denn ohne dich – ohne euch – wäre auch Thomas nur

ein halber oder bestenfalls ein dreiviertel Thomas gewesen.

Er ist aber auch der erste, der das freiwillig zugibt.

 

Überhaupt, die vielen Namen, die ich hier alle nicht nenne.

Im alten Haus am Majakowskiring vermehrten sich die Konterfeis

der aufgetretenen Dichter:innen als anwachsende Fototapete,

nach ein paar hundert Veranstaltungen wucherten sie

an der Decke entlang und zu Fenstern und Türen hinaus.

Davon hätten wir heute eine Videoversion gebraucht,

die die ganze Zeit hinter mir über die Wand liefe.

 

Auch zähle ich hier weiter keine der innovativen Formate auf,

keine Sternstunden, keins der bleibenden Netzwerke

und Rhizome. Es sind einfach zuviele,

und viele davon leuchten immer weiter.

 

Drei Jahrzehnte sind wirklich eine ziemlich lange Zeit.

Wenn ich aber die Jahresprogramme von früher aufschlage:

immer sehe ich sofort eine Veranstaltung, in die ich jetzt

einsteigen möchte. Dann wünsche ich mir eine magische Tür

zurück in die Neunziger oder in die Nullerjahre oder in die Zehner,

wünsche mir, ich könnte nochmal dabeisein, um diese unfassbar

vielen Texte, Töne, Ideen aufzugreifen für etwas Hybrides heute,

nicht eins zu eins, aber ihr utopisches Summen.

 

Videos, natürlich, zum Zurückschauen. Mitschnitte, die wieder neue

Produktionen anregen, neue Hybride aus Poesie und Poetik.

Ein Archiv für die Zukünfte.

 

Jetzt zuckt kurz das Coronagedächtnis.

Zwei Jahre lang haben wir – Lifelines hin oder her –

vielleicht doch zuviele Videos gehabt statt Veranstaltungen,

statt Begegnungen, statt Reisen. Diese Medien allein

sind nicht die Zukünfte.

 

Nichts allein ist diese Zukünfte. Deshalb

haben Thomas und Team die halbe UN bereist

auf allen Kontinenten. Sie haben Aberhunderte von Dichter:innen

im Namen und zum Nutzen der Weltpoesie hierher eingeladen,

in das ganze Pilzgeflecht der Poesie.

 

Da, wo diese Trillionen Pronomen

um Redefreiheit, Reisefreiheit, Visa kämpfen,

um ihr Recht auf Frieden und Selbstbestimmung

und die Freiheit von Kunst und Eigensinn,

genügen Videos nicht.

Da, wo geschossen, gefoltert und gehungert wird,

wissen auch Trillionen von Gedichten nicht weiter.

 

Trotzdem. Lifelines. Lyriklines.

 

Das Archiv für die Zukünfte

kann also kein Selbstzweck sein.

 

Was ist Poesie? Wofür brauchen wir sie?

Wofür brauchen wir dieses Haus für Poesie,

in das du, Thomas Wohlfahrt, drei Jahrzehnte lang

soviel Arbeit und Begeisterung und Lebenszeit

investiert hast?

 

Ich habe dazu keine fertigen Antworten

und begrüße deshalb die vielen anderen Stimmen,

die hier noch konkreter über die Zukunft

und die Zukünfte sprechen werden.

 

Danke den Trillionen Gedichten.

Danke dir, lieber Thomas

und Team