Festrede für Thomas Wohlfahrt von Brigitte Oleschinski am 29. August 2022
Das ganze Pilzgeflecht der Poesie
Festrede für Thomas Wohlfahrt
gehalten von Brigitte Oleschinski
am 29. August 2022 im Haus für Poesie
Liebe Gäste –
lieber Thomas –
Wer will das schon, aufwachen an so einem Spätsommertag,
nach wieder so einem Hitzesommer, und pengg!,
sind dreißig Jahre um – dreißig Jahre Erfolgsgeschichte,
immerhin, aber genau das passiert hier gerade:
Du wachst auf, und diese drei Jahrzehnte sind um!
Dabei hat es doch so atemberaubend angefangen,
an einer Epochenschwelle, der Nahtstelle des geteilten Europa,
Berlin zwischen Ost und West, plötzlich ging etwas voran:
Geschichte wird gemacht! – als hätten die Punkstimmen
aus der Neuen Deutschen Welle rechtgehabt, ein Taumel
von Paradoxen, und sogar „der Westen“ hätte rechtgehabt –
irgendwie –, aber vor allem hatte die Freiheit recht!,
und die Kunst!, und die Poesie!, plötzlich alles
so elektrisierend bunt hier!
Oder so werden es die Dabeigewesenen später beschreiben,
mit immer noch leuchtenden Augen, jedenfalls die Dabeigewesenen,
die gerade im richtigen Alter waren, um gesellschaftlich
und ästhetisch etwas Neues anzufangen, die also,
denen in den politischen Umbrüchen nicht gerade die Felle
davonschwammen oder über die Ohren gezogen wurden,
sondern die, die im richtigen Augenblick
über einen Flur in der Berliner Kulturverwaltung liefen
und sich starkmachten für ein wildes Literaturprogramm
in einer Villa am Majakowskiring,
damit aus einer alten DDR-Pfründe
ein Haus für Poesie wurde.
Was ist das, ein Haus für Poesie?
Ein Ort. Ein Programm. Ein Haushalt.
Es ist das, was uns gefehlt hat, bis wir es endlich hatten.
Bis wir, learning by doing, da hineingewachsen sind.
Wir alle miteinander:
Die Poesie, das Publikum, das ganze Pilzgeflecht.
Dieses Wir besteht aus sovielen Fiktionen,
dass wir eine Trillion Pronomen dafür finden müssten.
Stattdessen entdecken wir darin die Weltpoesie, die in ihren unzählbaren Stimmen, ihren unzähmbaren Formen,
Klängen, Verknüpfungen ganz real ist. Oder so real,
wie wir sie machen.
Ein Ort, ein Programm, ein Haushalt.
Thomas Wohlfahrt kommt Anfang der Neunzehn-Neunziger
nicht aus dem Nichts, auch seine Talente kommen nicht
aus dem Nichts, sie haben sich in zähem Widerstand
gegen die DDR-Provinz in Thüringen entwickelt.
Gerüchtweise, stellenweise verrauscht, weiß ich davon:
Klavierunterricht. Die Gruppenübung Singekreis.
Der Kirschbaum, an dem ein schlacksiger Jugendlicher
aus dem Hausarrest hinabklettert in die Freiheit der Nacht.
Literaturstudium und Promotion bringen ihn bis in die ostdeutsche
Akademie der Wissenschaften und dann, im Dissens,
noch vor dem Ende der DDR nach West-Berlin.
Etwas anzetteln, war eins der ersten Stichworte,
die ich für die Festrede notierte.
Genau, wer will aufwachen und eine Festrede
halten dürfen ..., als so halb und viertel Dabeigewesene
in fast dreißig Jahren, mit dem Zettel Dichterin um den Hals.
Ich empfinde den Ausdruck Anzetteln als positiv –
ein sehr positives Verhältnis zu Zetteln eben –,
auch wenn die Etymologie uns eines Schlechteren belehren will:
Es geht beim Anzetteln ursprünglich gar nicht um Papier,
sondern um Webfäden auf dem Webstuhl, um Ausbreiten und Verknüpfen also, es wird aber seit langem im übertragenen Sinn
eher abwertend gebraucht.
Was ich hier mit Anzetteln meine, ist im übertragenen Sinn
– ein eminent poetisches Manöver – natürlich etwas anders:
Ich meine den Aufruhr, der entsteht, wenn Poesie sich nicht nur
als stiller Lesegenuss von vereinzelten Büchermenschen versteht,
sondern zurückkehrt in den gesellschaftlichen Raum,
den gesellschaftlichen Prozess.
Zurück zum Mündlichen der Poesie!,
rief jedenfalls der Aufruhr am Majakowskiring,
er rief auch etwas von Bühne und Stimme
und von sekundärer Oralität,
und dann streunte das Programm in alle Richtungen hinaus
zu den Rändern von Musik, von Tanz,
von angrenzenden Wissenschaften und den Künsten jeder Farbe,
jeder Sprache, jeden Geschlechts.
Crossover!, riefen wir, Crossover!, oder auch:
Experiment! Sound! Performance!
Und unbedingt: Diskurs. in utopisches Summen.
Eine Biolumineszenz für Ohren.
Was ich damit meine, können Sie nachhören in einem Hörfeature auf dem Kanal für Poesie auf der Website des Hauses.
Aber Ideen organisieren sich nicht von allein.
Ein Ort, ein Programm, ein Haushalt.
Was brauchen wir dafür?
Das ist eine Frage, die ich als Thomas-typisch im Ohr habe.
Sie konnte überall aufploppen:
Beim Wein nach einer Veranstaltung, jederzeit am Telefon,
auch unterwegs zwischen Tür und Angel, im Flieger
nach Beirut oder Barcelona.
Was brauchen wir dafür?
Flüge, Visa, eine Großleinwand?
Mehr Übersetzungen? Mehr Technik?
Einen frisch verlegten Tanzboden?
Ich kenne wenige Menschen, die sich so entschlossen
bei anderen Rat holen wie Thomas Wohlfahrt.
Die Frage setzt noch kein fertiges Konzept voraus,
sondern nimmt Maß am Unmöglichen:
Warum nicht einen Literaturexpress quer durch ganz Europa
schicken? Warum nicht den Weltklang auf einer Freilichtbühne
am Potsdamer Platz? Warum nicht die lyrikline als internationale
Poesie-Website weltweit ins Netz bringen?
Im vergangenen Jahr habe ich oft in das – noch unaufgearbeitete –
Tonarchiv des Hauses für Poesie hineingehört, in drei Jahrzehnte
Mitschnitte von unwiederholbaren Ereignissen, und immer wieder
hörte ich Thomas' Stimme, wie er Veranstaltungen moderierte
und Dichter:innen vorstellte:
immer begeistert, wenn er von Poesie und Projekten spricht,
immer klirrend, wenn er der Politik die knappen Kulturhaushalte
vorrechnet, immer aufrichtig, wenn er sich im Anschluss
für Förderungen und Sponsoring bedankt.
Das ist eine Gabe für sich.
Ich glaube, dass nicht nur in Berlin, sondern bundesweit,
europaweit, weltweit die Verantwortlichen für Kulturpolitik
diese beharrliche Stimme nicht mehr aus dem Kopf
bekommen haben.
Ideen organisieren sich nicht von allein. Sie organisieren sich
nichtmal mit Geld von allein, selbst wenn jemand wie Thomas
so erfolgreich darin ist, diese vielfarbigen Gelder von Fall zu Fall,
von einer Unmöglichkeit zur nächsten, immer neu einzuwerben.
Das ist auch eine Gabe. Es braucht aber dazu ein Team
auf Augenhöhe, es braucht wechselseitige Loyalität
und Mitverantwortung.
Wenn ich dazu jetzt bloß andeute, liebe Christiane:
daran hast auch du einen enormen Anteil,
dann fehlen hier natürlich Dutzende weiterer Namen,
von den einzelnen Programmverantwortlichen
über die komplexe Technik bis zu Büro und Buchhaltung.
Denn ohne dich – ohne euch – wäre auch Thomas nur
ein halber oder bestenfalls ein dreiviertel Thomas gewesen.
Er ist aber auch der erste, der das freiwillig zugibt.
Überhaupt, die vielen Namen, die ich hier alle nicht nenne.
Im alten Haus am Majakowskiring vermehrten sich die Konterfeis
der aufgetretenen Dichter:innen als anwachsende Fototapete,
nach ein paar hundert Veranstaltungen wucherten sie
an der Decke entlang und zu Fenstern und Türen hinaus.
Davon hätten wir heute eine Videoversion gebraucht,
die die ganze Zeit hinter mir über die Wand liefe.
Auch zähle ich hier weiter keine der innovativen Formate auf,
keine Sternstunden, keins der bleibenden Netzwerke
und Rhizome. Es sind einfach zuviele,
und viele davon leuchten immer weiter.
Drei Jahrzehnte sind wirklich eine ziemlich lange Zeit.
Wenn ich aber die Jahresprogramme von früher aufschlage:
immer sehe ich sofort eine Veranstaltung, in die ich jetzt
einsteigen möchte. Dann wünsche ich mir eine magische Tür
zurück in die Neunziger oder in die Nullerjahre oder in die Zehner,
wünsche mir, ich könnte nochmal dabeisein, um diese unfassbar
vielen Texte, Töne, Ideen aufzugreifen für etwas Hybrides heute,
nicht eins zu eins, aber ihr utopisches Summen.
Videos, natürlich, zum Zurückschauen. Mitschnitte, die wieder neue
Produktionen anregen, neue Hybride aus Poesie und Poetik.
Ein Archiv für die Zukünfte.
Jetzt zuckt kurz das Coronagedächtnis.
Zwei Jahre lang haben wir – Lifelines hin oder her –
vielleicht doch zuviele Videos gehabt statt Veranstaltungen,
statt Begegnungen, statt Reisen. Diese Medien allein
sind nicht die Zukünfte.
Nichts allein ist diese Zukünfte. Deshalb
haben Thomas und Team die halbe UN bereist
auf allen Kontinenten. Sie haben Aberhunderte von Dichter:innen
im Namen und zum Nutzen der Weltpoesie hierher eingeladen,
in das ganze Pilzgeflecht der Poesie.
Da, wo diese Trillionen Pronomen
um Redefreiheit, Reisefreiheit, Visa kämpfen,
um ihr Recht auf Frieden und Selbstbestimmung
und die Freiheit von Kunst und Eigensinn,
genügen Videos nicht.
Da, wo geschossen, gefoltert und gehungert wird,
wissen auch Trillionen von Gedichten nicht weiter.
Trotzdem. Lifelines. Lyriklines.
Das Archiv für die Zukünfte
kann also kein Selbstzweck sein.
Was ist Poesie? Wofür brauchen wir sie?
Wofür brauchen wir dieses Haus für Poesie,
in das du, Thomas Wohlfahrt, drei Jahrzehnte lang
soviel Arbeit und Begeisterung und Lebenszeit
investiert hast?
Ich habe dazu keine fertigen Antworten
und begrüße deshalb die vielen anderen Stimmen,
die hier noch konkreter über die Zukunft
und die Zukünfte sprechen werden.
Danke den Trillionen Gedichten.
Danke dir, lieber Thomas
und Team