Kapital
Darüber, dass eine Sprache zu haben, ein Schatz, ein Kapital ist, herrscht weitestgehend Einigkeit. Poesie als die Kunstform der Sprache ist in hohem Maße Kapital des ganzheitlichen Menschen. Das machen uns unsere Gesellschaften mit ihrem steigenden Bedarf an Dichtung und ihrer Hochachtung vor den Dichterinnen und Dichtern immer wieder klar. Die Formate der Präsentation von Dichtung ändern sich stets. Kapital, lat. capitalis, bedeutet eben nicht nur Geld, sondern in erster Linie »Kopf« und »das Leben betreffend«. Das 16. poesiefestival berlin bietet in seinen über 50 Veranstaltungen an, die Vielfalt von Poesie aus aller Welt unter dem Aspekt von vorhandenem, zu nutzendem bzw. zu hebendem Reichtum aus Sprache zu erleben: Poesie als menschliches Kapital, geschöpft, verfasst und präsentiert von Autorinnen und Autoren aus aller Welt.
Von »Weltklang«, der großen lyrischen Sichtung der Welt, bis hin zum Lyrikmarkt am Ende des Festivals werden uns 142 Künstlerinnen und Künstler aus 32 Ländern an ihren Sprach- und Sprechwelten teilhaben lassen.
»Aufs Maul geschaut – Mit Luther in die Welt der Wörter« heißt die zentrale Ausstellung des Festivals. Sie lässt anlässlich des 500. Jahrestages der Reformation erleben, was wir in Mund und Hirn alles sprachlich transportieren, welche Herkünfte in Zeit und Raum, welche Bedeutungsverschiebungen und Umbrüche wir mittragen, wenn wir mit Sprache umgehen. Martin Luther war der große Reformator, auch der deutschen Sprache! Zudem geben drei Dichtende sehr persönlich Auskunft über ihr Verhältnis von Luthersprache und Dichtungssprache. Täglich stimmt eine gemeinsam zu genießende Brotzeit als Performance bestens auf die Ausstellung ein. Sprachgeschichte ist Menschheitsgeschichte und spannend wie ein Krimi: was für ein Kapital!
In theatraler Fassung werden die ästhetischen Dimensionen der den gleichen Gott preisenden Heiligen Schriften von Juden, Christen und Muslimen nebeneinandergestellt und in ihrer poetischen Pracht gemeinsam von einer jüdischen Kantorin, einem syrisch-orthodoxen Diakon und einem Koranrezitator, Qari genannt, zum Vortrag gebracht: welch ein poetischer Reichtum der Menschheit. Eine Klanginstallation um die in allen Religionen und Sprachen vergleichbare Einladung an die Gemeinschaften »Komm!« zur Freude vervollkommnet diese Betrachtung.
Den Zukünften der Dichtung ist das diesjährige Colloquium gewidmet. Neue bzw. andere Formate im medialen Präsentieren von Poesie, auch in Allianzen von Dichtung mit anderen Künsten, durchziehen das gesamte Festival. Das reicht von digitalen Formen über elektronische Musik, T-Shirt-Poems bis hin zum Poesiefilm. Nicht nur »Poetry goes public« stellt einige davon vor.
»Spoken Word«-Künstlerinnen und -Künstler aus afrikanischen Ländern haben einen Eilbrief an Europa erdichtet. Sie bringen ihn zum Vortrag und uns zum Diskutieren. Krieg, Terror und unsere Solidarität mit den Menschen, die davor fliehen müssen, werden nicht nur auf dieser Veranstaltung thematisiert.
Zwischen Zeichen und Zeilen findet heutige Lyrik aus China zu Ausdruck und Aussage. Nie war in solcher Komplexität auf eine poetische Landschaft geschaut worden, die sich in produktiver Reibung mit auf 3000 Jahre verweisenden Traditionen und politischen wie philosophischen Implikationen auseinandersetzt.
Poetische Stimmen und Landschaften Polens stellen sich uns dar. Der diesjährige »VERSschmuggel« bringt beste Dichtung aus den Niederlanden und Flandern via Übersetzung durch deutsche Dichterinnen und Dichter in Fluss wie umgekehrt Gedichte von hier in gleicher Weise in die andere Sprache wechseln. Besondere Positionen des Poetischen sind der Komik und dem Veranstaltungsformat »3durch3 spezial« gewidmet. Der »Dichterabend« gilt in diesem Jahr der Terra-poetik im Anthropozän. In einem international besetzten großen Konzert versammeln sich Positionen von e.poesie.
Poesiegespräche gewähren auf sehr persönliche Weise Einblicke in einige Dichterwerkstätten. Zu erwarten sind poetologische Auskünfte feinster Art.
Programme für Kinder sind ebenso vorbereitet, wie Kinder und Lehrer auch generell aktiv teilhaben an den Erkundungen von Sprache und Dichtung.
Mit »Poets’ Corner« ist wieder die ganze Stadt in das poesiefestival berlin einbezogen. Veranstalterinnen und Veranstalter von Poesiefestivals aus vielen Ländern treffen in Berlin zum Austausch zusammen, und die Lyrikline-Partner aus aller Welt nutzen das Festival für ihre Jahresversammlung.
Am Lyrikmarkt werden weitgehend alle Verlage teilnehmen, in denen deutschsprachige Lyrik erscheint. Hier kommen dann, wenn man so will, noch einmal alle Bedeutungsmomente von Kapital zusammen; einem poetischen wohlgemerkt.
Allen Teilnehmenden sowie Besucherinnen und Besuchern wünsche ich ein wunderbares Festival und bedanke mich herzlich bei allen Partnern und Sponsoren, insbesondere beim Hauptstadtkulturfonds, bei der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und bei der Akademie der Künste.
Dr. Thomas Wohlfahrt
Leiter der Literaturwerkstatt Berlin und Direktor des poesiefestival berlin