Tagelied

Übersetzte hochdeutsche Version Heinrich von Morungen

[Text ca. 1190-1222]


(I) O weh,
soll mir denn länger nicht
erstrahlen durch die Nacht,
noch weisser als der Schnee,
ihr Leib in seiner Pracht?
Er täuscht’ die Augen mein
ich meint’, es müsste sein
Des hellen Mondes Schein
Da tagte es.

(II) »O weh,
kann er denn nicht einmal
den Morgen hier erleben?
Kann keine Nacht vergehn
dass wir nicht Klag’ erheben:
›O weh, jetzt ist es Tag‹
wie er voll Jammer tat
als jüngst er bei mir lag.
Da tagte es.«

(III) O weh,
sie küsste ohne End
in dem Schlafe mich,
wobei die Tränen ihr
als Fluss zu Tale rannen.
Da tröstete ich sie,
dass sie ihr Weinen liess
und mich fest umfing.
Da tagte es.

(IV) »O weh,
Dass doch so oft sein Blick
auf mir nur ist verharrt!
Wenn er die Decke hob
und er dann ohne Kleid
die Glieder wollte sehn.
Und seltsam, dass er nie
den Anblick müde ward.
Da tagte es.«