Peer Trilcke (c) Jana Wolf
Über die »Zukünfte der Dichtung« spricht man dort, wo ich mich verorten würde –in den Gefilden einer wesentlich historischen Wissenschaft –, nur zögernd. Das mag manch einem feige erscheinen, doch es gibt gute Gründe dafür. Ich, zum Beispiel, zögere deshalb, weil ich die Gefahr sehe, mich beim Reden über die ›Zukünfte‹ in eine dieser Erzählungen vom ›Alten‹ und ›Neuen‹ oder gar von ›Aufstieg‹ und ›Fall‹ zu verstricken, mit denen man meint, die Welt in den Griff zu bekommen – und doch nur rhetorische Tricks vollführt, die sich aus der je eigenen Ideologie ableiten, aus dem eigenen Geschmack, den je eigenen Interessen, den Vorlieben, Ängsten und Hoffnungen.
Wirklich entkommen kann man dieser rhetorischen Falle, fürchte ich, nicht. Aber man kann sich ihr stellen. Allerdings erweist sich das entsprechende Fragen nach dem Ort des eigenen Sprechens angesichts der Digitalisierung – die selbst eines dieser Großnarrative ist, ohne das sich heute kaum noch Geschichten erzählen lassen – als Herausforderung. Denn eine der Selbstnarrationen, die die Digitalisierung hervorgebracht hat, erzählt von einer grundlegenden Umstellung: An die Stelle der großen historischen Bewegungen sind die Dynamiken archipelartiger Netzwerke getreten: Dem historischen Nacheinander, dem wir mit der Rede von der ›Zukunft‹ zu begegnen versuchen, ist ein Nebeneinander vorgeschaltet, das es nötig macht, diese Rede radikal auszudifferenzieren. Womit sich eben auch die Orte, von denen aus man spricht, ausdifferenzieren, multiplizieren. Und das betrifft nicht zuletzt die Rede von der ›Zukunft der Dichtung‹, die sich – wie der Titel dieses Colloquiums auf mir einleuchtende Weise verspricht – auffächert in viele Reden von vielen »Zukünften«.
Wobei man das noch weitertreiben kann: Denn was motiviert heute eigentlich noch den Singular ›Dichtung‹? Haust in diesem Singular nicht eine prädigitale, ja vielleicht sogar prämoderne Vorstellung von der Einheitlichkeit spezifischer Praktiken, eben ›poetischer‹ Praktiken, die uns längst abhanden gekommen ist (was, siehe oben, selbst wiederum eine große Erzählung wäre)? Mich jedenfalls irritiert der Begriff der ›Dichtung‹ zunehmend. Was hält ihn eigentlich zusammen?
Oder anders gesagt: Auf der einen Seite kann ich intuitiv nachvollziehen, dass heute sehr unterschiedliche Formen, Formate und Praktiken als ›dichterisch‹, als ›poetisch‹ bezeichnet werden, dass es zum Beispiel neben dem gedruckten Gedichtband eine Poesie des Tweets gibt, dass neben geschlossen-werkförmiger Dichtung solche poetischen Praktiken stehen, die der Offenheit des prozessierten Postens folgen; dass es algorithmenbasierte Dichtung gibt und Dichtung, die aus einer starken auktorialen Intentionalität heraus entsteht. Und dass all diese Dichtungen ihre eigentümlichen »Zukünfte« haben werden.
Auf der anderen Seite aber kann ich das alles nicht mehr unter einen Hut bringen, der Begriff der ›Dichtung‹ zerfällt mir.
Nun könnte man einwenden, dass es sich hier um ein Wissenschaftsproblem handelt. Wen schert schon, was wir mit ›Dichtung‹, und zwar im Singular, eigentlich meinen, entscheidend ist doch, was in der ›Dichtung‹ passiert, also was man tut. Aber damit macht man es sich zu einfach, denn tatsächlich tut man bereits etwas, wenn man den Begriff ›Dichtung‹ verwendet: Man trifft Unterscheidungen, behauptet Ordnungen, man zieht Grenzen, nimmt Exklusionen, Inklusionen, Distinktionen vor, betreibt also Begriffspolitik – und auch diese ist nicht frei von den je eigenen Ideologien, dem eigenen Geschmack, den Interessen, den Vorlieben, Ängsten und Hoffnungen.
Aber was für eine Politik, was für Ideologien, was für Interessen stehen hinter dem Singular ›Dichtung‹? Was versprechen wir uns von diesem Begriff, mit dem wir – und zwar per definitionem – Grenzen einziehen in die Mannigfaltigkeit der Kommunikation?
Für die »Zukünfte« konkreter poetischer Akte mögen diese Fragen irrelevant sein. Für mich, aus den Gefilden der Wissenschaft, sind sie brennend. Begriffe haben ihre Geschichten, sie kommen und gehen. Noch vor wenigen Jahrhunderten hat niemand, zum Beispiel, von ›Lyrik‹ gesprochen; und auch – ein letztes Beispiel – auf die Idee, nach der ›Zukunft‹ der Dichtung zu fragen, wäre vor nur wenigen Hundert Jahren niemand ernsthaft gekommen.
Begriffe kommen, Begriffe gehen. Es gibt keine historische Notwendigkeit, nach der man im sogenannten ›Zeitalter der Digitalisierung‹ weiterhin von ›Dichtung‹ sprechen muss.
Wenn wir es aber wollen, und wenn wir es auch in ›Zukunft‹ tun wollen, warum?
Trilcke_Peer_-_Dichtung_und_Digitalisierung_v0.9.pdf