Leonce W. Lupette (c) Timo Berger
Schwieriger als die Frage nach der Zukunft ist die nach der Gegenwart, denn es ist sehr heikel, zu versuchen, die eigene Gegenwart zu erkennen, und zu verstehen, was in den Texten der Gegenwart vor sich geht und wie sich diese zur Gegenwart verhalten. Lyrik ist schon immer mehrsprachig gewesen, Literatur – soweit sich das zurückverfolgen lässt – schon immer Weltliteratur, jede Sprache schon immer polylingual. Kodifizierte und gepflegte Nationalsprachen sind ein eher junges Phänomen. Das bloße Faktum der Mehrsprachigkeit eines Textes würde ich deshalb nicht vorbehaltlos als erhellenden und erkenntnisbringenden Anzeiger irgendwelcher gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Strukturen sehen – das gilt vielmehr für das neue Interesse an diesen Formen, für den Diskurs über diese Formen. Die jeweiligen Formen selbst mögen sich im einzelnen ganz unterschiedlichen, individuellen Verhältnissen und Verhängnissen verdanken, und ihr politischer Gehalt muss ebenfalls mit jeder Lektüre neu erfasst werden. Mehrsprachigkeit bei den Trovadores des 12. Jhds. ist etwas ganz anderes als Mehrsprachigkeit der Macarones ist etwas ganz anderes als Mehrsprachigkeit bei Jandl ist etwas ganz anderes als Mehrsprachigkeit bei Pound ist etwas ganz anderes als Mehrsprachigkeit bei Kanese ist etwas ganz anderes als Mehrsprachigkeit bei Rimbereid ist etwas ganz anderes als Mehrsprachigkeit bei Cassar ist etwas ganz anderes als Mehrsprachigkeit bei Lupette.
Bloße Mehrsprachigkeit kann auch auf der Ebene der Illustration verharren, kann reine Affirmation sein von Prozessen, die schon seit Jahrzehnten zur Vulgärsoziologie gehören, und somit weisen manche mehrsprachige Texte kaum über allgegenwärtige Gemeinplätze hinaus. Der genaue Blick auf den einzelnen Text erscheint mir als der einzig mögliche, um der Gefahr der Pauschalisierung zu entgehen.
Wenn etwa Øyvind Rimbereid in Solaris korrigiert (2004) eine Mischsprache aus norwegischem Dialekt, Dänisch, Deutsch, Altnordisch und Englisch kreiert, um von einer komplexen science-fictionartigen geopolitischen Zukunft der Nordseegebiete zu schreiben, hat das Mischen von Sprachen eine ganz andere sprachliche, politische und historische Bedeutung als wenn Jorge Kanese auf ebenso komplexe Weise eine Mischung aus Spanisch, Guaraní und Portugiesisch neu schafft, um eine gegenwärtig vorhandene sprachlich-politische Situation aus dem Dreigrenzraum Paraguay-Brasilien-Argentinien aufzugreifen und zu hintertreiben und das Postulat der Unreinheit zu zelebrieren. In Antoine Cassars Gedicht Merħba. A poem of hospitability (2009) wiederum hat die Mehrsprachigkeit nur den Stellenwert der gestischen Illustration und musikalischen Untermalung einer politischen Parole, offenbart aber selbst kaum sprachlichen oder politischen Erkenntniswert.
Vielleicht ließe sich sagen, dass in mehrsprachiger Lyrik etwas wie die Sprachigkeit der Sprache selbst zum Vorschein kommt, dass mehrsprachige Texte es ermöglichen, Strukturen zu begreifen, die womöglich jeder Sprache und jedem Sprechen inhärent sind. In der Mehrsprachigkeit bleibt Sprache hinter sich selbst zurück und ist zugleich mehr als sie selbst. Ebenso wie Lyrik sich grundsätzlich jedes Materials bedienen kann, kann sie sich auch jeder Sprache bedienen, ohne Ausnahme.
Mehrsprachige Sprachen, mehrsprachige Texte sind keine neue Erscheinung, und ich bin mir auch nicht sicher, ob es einen neuen Trend zu mehr mehrsprachigem Schreiben gibt, oder ob lediglich die Aufmerksamkeit und das (feuilletonistische und akademische) Interesse daran steigen, ebenso wie die Möglichkeit, sich Zugang zu solchen Texten zu verschaffen und die Publikation solcher Texte weltweit zu verfolgen. Eine mögliche Aufgabe nicht für die Zukunft, sondern bereits für die Gegenwart wäre es also, diese Verfügbarkeit, dieses Interesse zu nutzen, um die einzelnen Texte wirklich zu lesen; aus der Lektüre Erkenntnisse über die Sprache, über unser Sprechen zu gewinnen; sie in all ihren Eigenheiten sprechen zu lassen, die nicht selten ein Sprechen gegen jedwede Affirmation und gegen Zustände überhaupt bergen.
Lupette_Leonce_W._-_Zuknfte_der_Dichtung_Keynote.pdf