Abstracts zum Colloquium: Literaturen der Flucht

Das Colloquium des 17. poesiefestival berlin widmete sich dem Thema „Flucht und Literatur“. Dazu haben Dichterinnen und Dichter, ursprünglich aus Syrien, Palästina und dem Kongo, sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler diskutiert. Finden Sie hier Abstracts der Beteiligten.

Panel 1

Literatur im Ausnahmezustand: „Hotspots“ und „Transitzonen“
Mit Eva Geulen DEU Literaturwissenschaftlerin | Ghayath Almadhoun PSE/SWE Dichter | Rasha Omran SYR/EGY Dichterin
Moderation: Falko Schmieder DEU Kulturwissenschaftler

Panel 2

Fluchterfahrungen zwischen Antike und Gegenwart
Mit Martin Treml DEU Religionswissenschaftler | Melanie Möller DEU Altphilologin | Hammoud Hamoud SYR/DEU Islamwissenschaftler
Moderation: Dirk Pilz DEU Journalist

Panel 3

Eine Sprache für das Flüchten finden
Mit Hannah Markus DEU Germanistin | Alfrun Kliems DEU Slawistin | Fiston Mwanza Mujila COD/AUT Dichter
Moderation: Johann Reißer DEU Autor

Eva Geulen DEU Literaturwissenschaftlerin

SO 5.6.
Colloquium: Literaturen der Flucht
„Wir deren Splitter verstreut sind“

1. Panel: Literatur im Ausnahmezustand: „Hotspots“ und „Transitzonen“

Aus Hannah Arendt: We Refugees (1943)

In the first place, we don't like to be called 'refugees.' We ourselves call each other "newcomers" or "immigrants". (...) A refugee used to be a person driven to seek refuge because of some act committed or some political opinion held. We… it is true, we have had to seek refuge. But we committed no acts and most of us never dreamt of having any radical opinion. With us the term "refugee" has changed. Now "refugees" are those of us who have been so unfortunately as to arrive in a new country without means...

Colloquium_Eva_Geulen.pdf

Rasha Omran SYR/EGY Dichterin

SO 5.6.
Colloquium: Literaturen der Flucht
„Wir deren Splitter verstreut sind“

1. Panel: Literatur im Ausnahmezustand: „Hotspots“ und „Transitzonen“

Thinking about what happens next: If I decided to live in Egypt of my own will without being forced to abandon my country as if it’s now, would my sense of being a woman, a writer and a bachelor in a foreign country change from what it is now?  This is a burning question that needs an answer. The answer does not seem quite easy because I have not previously lived outside Syria in my adult life before.  I kept traveling and coming back without noticing such questions.  Since now I live in an Arab country, with its own political and social conflicts like other Arab regimes within the region.  Moreover, I'm registered in neither in the European refugee commission nor in the United Nations.  I don’t even receive aids from the Egyptian government.  Of course, I make a living from my writing merely,and I live in the city center of Cairo, a place where you can’t spot Syrians. Many Egyptian friends of mine are writers and sharp as a tack. However, there is always this inner feeling that I am not more than just a refugee in a country that was once an Old southern region of my country. What makes me feel that way? First of all, I live all alone by myself. What it means to be a lonely female being in a foreign country, a 3rd world country where there are no set rules and regulations to protect women; social security whatsoever is really a pain in the neck. Such countries, these mentalities do not respect the weak, lonely and elderly female. Instead, they scorn and slave them loudly.  Not only the governments abuse these females, but ordinary citizen and people abuse them, too.  The intensity of oppression being practiced towards those people is being passed down generation after generation.  If I was in my home country, I would have family and friends surround me. In such a country like Egypt I am afraid to inform you that I don’t have any of this. Furthermore, if i stopped writing, I would not be able to pay my
rented house as well as my expenses.  I have to keep plugging away and keep writing if I want to stay strong. That means I must isolate myself within my little world, a fantasy world. Even love in such cases seems ambiguous, do I really love this guy or have I attached to him because he managed to shape me this psychologically safer or what?   These are some of the facts I have shown.  When I start writing, I do not see what’s in front of me, all I see is this elderly lonely female who is down in the dumps and can’t even dream or return to her home country.  My writing brings back such a memory of hundreds of women who have such abominable circumstances and I will always write about me and them. Last but not least, I am not even entitled to write about the issues of the country that I live in. My friends will not even buy my words since I am a guest and all I ought to do is to zip up! The fear of the future itself, all those questions about politics, poetry, love, isolation and loss and death are what motivate me to keep writing.

Colloquium_Rasha_Omran.pdf

Martin Treml DEU Religionswissenschaftler

SO 5.6.
Colloquium: Literaturen der Flucht
„Wir deren Splitter verstreut sind“

2. Panel: Fluchterfahrungen zwischen Antike und Gegenwart

Flüchtende in den monotheistischen Religionen

Die drei großen monotheistischen Religionen des Westens – Judentum, Christentum und Islam – kennen alle Erzählungen von Flüchtenden, und das nicht nur nebenbei. Vielmehr stehen solche Erzählungen im Zentrum der Tradition und sind wichtige Etappen der Offenbarung. Von Vertreibung und Flucht berichten die heiligen Überlieferungen der drei Religionen jedoch nicht auf die gleiche Weise, sondern stets verändert, was als signifikant für die jeweilige Tradition selbst gelten kann. Es macht einen Unterschied, ob infolge von Hunger und Unterdrückung (Judentum), oder im Verlauf eines Bruderkriegs (Islam) oder der Bedrohung der Nachkommen wegen (Christentum) geflohen wird. Diese Urszenen der Heilsgeschichte laufen in der Figur Abrahams, des Stammvaters aller drei monotheistischen Religionen, zusammen, sodass sich in seinem Geschick und seinen Taten Narrative angelegt finden, die sich später religionskulturell höchst verschieden ausgeprägt haben.

Colloquium_Martin_Treml.pdf

Melanie Möller DEU Altphilologin

SO 5.6.
Colloquium: Literaturen der Flucht
„Wir deren Splitter verstreut sind“

2. Panel: Fluchterfahrungen zwischen Antike und Gegenwart

"Auf dem Weg nach Rom: Aeneas und die Flucht aus Troja"

Vergil, der „Vater des Abendlandes“, konfrontiert uns in seinem epochemachenden Hauptwerk, der Aeneis, mit einem Epos über einen auserlesenen Trupp Flüchtlinge rund um den Protagonisten Aeneas, der aus der kleinasiatischen Metropole Troja infolge ihrer totalen Zerstörung nach Westen aufbricht, um dort eine neue Stadt zu gründen: Rom. Von dieser Stadt soll künftig die Weltherrschaft ausgehen. Schon die antike Philologie hat diese seltsame Urgeschichte um die fremdbestimmte Gründung Roms iritiert: Wie konnte es angehen, dass ausländische Helden, noch dazu Vertriebene, dazu ausersehen waren, den Grundstein für die Zukunft des westlichen imperium sine fine zu legen? Vergil selbst findet eine raffinierte mythologische Lösung für das delikate Problem: Ein Urahn der Trojaner mit Namen Dardanos soll ursprünglich aus italischen Landen stammen und sich erst später im fernen Osten niedergelassen haben. So gesehen, handelt es sich um eine Rückkehr, und der Weg führte von West nach Ost und wieder zurück. Alles hatte wieder seine (westliche) Ordnung. Und doch lässt auch Vergil vieles im Vagen: Sein Aeneas ist ein
ambivalenter, orientierungsloser Charakter und wird auch im Text mit Klischees konfrontiert (vor allem dem des orientalisch verweichlichten, feigen Flüchtlings, dessen aggressives Gebahren keine rechtliche Grundlage habe). Solche Widersprüche werden nicht nur in den italischen  Eroberungskriegen deutlich, sondern auch in der erotischen Episode mit der karthagischen Königin Dido, übrigens auch eine Geflüchtete, die sichfremdes Terrain unterwirft. Was also hat es mit diesen Flüchtlingen auf sich? Wie legitim ist ihr Anspruch auf die neue, alte Heimat, in die sie am Ende mit göttlichem Beistand immerhin ihre Religion – ausgerechnet! – einführen dürfen? Und warum agieren die Götter und Aeneas‘ frommer Vater Anchises als „Schlepper“? Welche Konsequenzen ergeben sich für die politischen Genealogien, auf die die römischen Eliten sich gründeten (Caesar und Augustus sahen sich als ideelle und familiäre Nachfahren des Aeneas, Mythos und Geschichte bildeten ein Amalgam)? Und was heißt das für die kulturelle Vorherrschaft des Westens, mithin Europas? Dass dieser Westen eine fragile Konstruktion ist, hat Vergil indes gleich zu Beginn seines Epos vor Augen geführt, indem er die Problematik von Perspektiven und Grenzziehungen (wo beginnt eigentlich der Osten?) poetisch auslotet.

Colloquium_Melanie_Mller.pdf

Hammoud Hamoud SYR/DEU Islamwissenschaftler

SO 5.6.
Colloquium: Literaturen der Flucht
„Wir deren Splitter verstreut sind“

2. Panel: Fluchterfahrungen zwischen Antike und Gegenwart

Die Hidschra Mohammeds oder die Flucht in die Politik

Ist es möglich, den Koran als „das Buch der Flucht“ bzw. „das Buch des Exodus“ zu bezeichnen? Für Mohammed (gestorben 632), und auch später für die Entwicklung des Islams, stellt die Hidschra den bedeutsamsten Einschnitt in der Geschichte dieser Religion dar. Die historische Hidschra aus dem Jahr 622 ursprünglich bedeutet: Die Flucht von Mohammed und seiner Begleiter aus humanitären und religiösen Gründen aus Mekka in das 400 Kilometer entfernte Yathrib (später Meddina, die Stadt des Propheten).
Der Auszug aus der Heimatstadt Mekka hatte dramatische psychologische und sozialpolitische Folgen. Mein Vortrag wird zeigen, warum diese Flucht (und „die Flucht im Islam“ im Allgemeinen) eine andere und tiefere Bedeutung hatte als die von Moses im Judentum. Die Flucht Mohammeds wurde von islamischen Traditionalisten später mystifiziert und der Weg zwischen Mekka und Yathrib als „Allahs Weg“ bezeichnet. Durch diese Flucht, das werde ich erläutern, wurde Mohammed vom religiösen Propheten zum Politiker,  wurde vom religiösen Prediger zum politischen Gesandten und zum Feldherrn. Wäre Mohammed nicht geflüchtet, gäbe es den  „Islam“ vermutlich heute nicht als Religion und die arabische Geschichte wäre vollkommen anders verlaufen, und der Islam hätte kein Vorbild für die heutigen terroristischen Islamisten werden können, die sich als „Islamischer Staat“ bezeichnen. Im terroristischen Kontext wird behauptet: Mohammeds Flucht sei das Vorbild, um den Islamischen Staat zu errichten.

Colloquium_Hammoud_Hamoud.pdf

Hannah Markus DEU Germanistin

SO 5.6.
Colloquium: Literaturen der Flucht
„Wir deren Splitter verstreut sind“

3. Panel: Eine Sprache für das Flüchten finden

Fluchterfahrungen in der Nachkriegslyrik

Noch Jahrzehnte nach dem Ende des zweiten Weltkriegs prägen Fliehen und Flucht, Exil und Vertreibung als Topos wie Metapher zahlreiche Werke der deutschsprachigen Literatur. Sie ziehen sich durch die Prosa und Lyrik so unterschiedlicher Autoren und Autorinnen wie Bertolt Brecht, Nelly Sachs, Rose Ausländer, Heinz Piontek, Günter Grass, Christa Wolf oder Peter Härtling. Selbst der eingeschränkte Fokus auf die Nachkriegslyrik (hier angesetzt von 1945 bis 1955) und die durchaus nicht unproblematische Aussparung der Fluchterfahrungen von Exilantinnen wie Nelly Sachs oder Mascha Kaléko zeigt eine hohe Diversität an Aussagen und Tendenzen in den Gedichten derer, die nach 1945 in den in den vier Besatzungszonen bzw. ab 1949 in der DDR und BRD schrieben. Das Spektrum reicht von deutsch-nationalen Tönen wie bei der ostpreußischen Schriftstellerin Agnes Miegel, die jede politische Ursache der Vertreibungen ausspart und die Flucht als Passionsgeschichte des deutschen Volks deuten will, über die Heimweh-Lyrik der Deutschbaltin Gertrud von der Brinckens und die drastischen Schreckensbilder in den ersten Gedichten der gebürtigen Breslauerin Dagmar Nick bis hin zu den verfremdenden und gerade darin den kollektiven Horror von Krieg und Flucht ausdrückenden Texten Peter Huchels, der als Ostbrandenburger die Trecks der Fliehenden aus der Perspektive des Beobachters wahrnahm. Zwei große Linien lassen sich indes in der Mehrzahl der Gedichte erkennen: Während die retrospektiven und in der Regel idealisierenden Vergegenwärtigungen der verlorenen Heimat meist über plastisch und konkret anmutende Details eine individuelle Erinnerung suggerieren, sind die auf die eigentliche Flucht konzentrierten Texte immer wieder von einer entzeitlichten Universalisierung geprägt, oft verbundenen mit dem Rückgriff auf biblische und antike Urszenen von Flucht, Vertreibung und Ankunft, der die den Gedichten zugrunde liegenden realen Erfahrungen überhöht.

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Alfrun Kliems DEU Slawistin

SO 5.6.
Colloquium: Literaturen der Flucht
„Wir deren Splitter verstreut sind“

3. Panel: Eine Sprache für das Flüchten finden

Reflexionen aufs Fliehen: Ostmitteleuropa

Eine Sprache für das Flüchten zu finden, heißt oft zunächst einmal ganz wörtlich: eine neue Sprache aneignen. Eine Fremd- als Schreibsprache – die in Osteuropa andererseits oft eine vertraute war: Französisch für die polnischen Aristokraten der Großen Emigration (Wielka Emigracja) im Paris der 1830er Jahre, Englisch für Vladimir Nabokov in New York, Deutsch für Libuše Moníková in West-Berlin.
Zweierlei scheint mir für die belletristische Reflexion aufs Fliehen in bzw. aus dieser Region bestimmend. Erstens, sie ist für die entsprechenden Literaturen konstitutiv. Deren Kontext im 19. und 20. Jahrhundert bilden imperiale Überformung, Krieg, ethnische Homogenisierung, Völkermord, Diktatur – und mit ihnen Flucht und Exil als dauerhaft wiederkehrende Realie. Entsprechend präsent ist das Thema, dicht die narrative Tradition, reich die bereitliegende Motivik: Ein bemerkenswert großer Teil ost(mittel)europäischer kanonischer Literatur ist auf die eine oder andere Art „exulantisch“.
Zweitens führt die Flucht frappierend oft ins Eigene. Zwar figurieren Alteritätserfahrungen, Entfremdung und Zurückweisung prominent. Doch sind die erwähnten „Sprachwechsler mit Vorkenntnissen“ kein Zufall. Die Protagonisten bewegen sich und ihre Figuren in einem euro-atlantischen intellektuellen Kontinuum – schlagend ins Bild gebracht von dem aus Prag nach Paris und ins Französische ausgewichenen Milan Kundera in seinem Mitteleuropa-Essay Un occident kidnappé. Wo sie ankommen, sind sie fremd – aber nicht so fremd, dass sich nicht rasch mit ähnlich Gestimmten eine gemeinsame Sprache finden ließe. Und sei es zum Streit, wer wen verraten habe oder arrogant missverstehe.
Insofern wäre sehr zu fragen, ob bestimmte häufig auftauchende ästhetische Verfahren: das Ineinanderblenden von Orten und Personen, eine Poetik des Fragmentarischen und hyperkonkreter Benennungszwang, der die Fragmente obsessiv sammelt, ordnet, katalogisiert, inventarisiert und darüber erinnert, phantastisch überhöht und kunstvoll montiert – ob also solche im Kern nostalgischen Verfahren tatsächlich in erster Linie dem Sujet der Flucht geschuldet sind. Oder ob dieses Mapping des Verlorenen, des Flüchtigen, nicht einem allgemeinen Selbstbefund der Moderne dient – dem auch Flucht und Vertreibung eher Metapher als Thema sind.
Mit der Dritten Globalisierung indes heißt in der Region über Flucht zu schreiben vermehrt auch Fliehen nach Osteuropa zu reflektieren. So werden in Jáchym Topols Roman „Die Schwester“ (Sestra, 1994) nicht nur die Tschechen durch die Welt geweht, nach Berlin unter anderem, sondern ebenso Fremde angeweht in Prag: „[…] in unseren Erdgeschossen und Kellern gab es ein kleines Initiationslager für die Laoten ... und Bastardbohemia kriegte ’ne frische Dröhnung Asien in seine verkalkten Venen.“
In Topols Erzählung einer postnational entsicherten Welt sind Flüchtlinge Teil und Bild dieser Entsicherung, aber auch einer neuen „Megarasse aus den Untergrund“ der während des 20. Jahrhunderts doppelt entmischten Stadt Prag, einer Stadt ohne ihre Juden und ihre Deutschen. Insofern handelt es sich um Imaginationen einer von multidirektionalem Entrinnen amorph geprägten, zur Geschichte ihres Orts beziehungslosen, unsentimental gegenwärtigen Gesellschaft. Auch hier verweist das Fliehen-Motiv über sich hinaus.

Colloquium_Alfrun_Kliems.pdf