SO 5.6.
Colloquium: Literaturen der Flucht
„Wir deren Splitter verstreut sind“
3. Panel: Eine Sprache für das Flüchten finden
Reflexionen aufs Fliehen: Ostmitteleuropa
Eine Sprache für das Flüchten zu finden, heißt oft zunächst einmal ganz wörtlich: eine neue Sprache aneignen. Eine Fremd- als Schreibsprache – die in Osteuropa andererseits oft eine vertraute war: Französisch für die polnischen Aristokraten der Großen Emigration (Wielka Emigracja) im Paris der 1830er Jahre, Englisch für Vladimir Nabokov in New York, Deutsch für Libuše Moníková in West-Berlin.
Zweierlei scheint mir für die belletristische Reflexion aufs Fliehen in bzw. aus dieser Region bestimmend. Erstens, sie ist für die entsprechenden Literaturen konstitutiv. Deren Kontext im 19. und 20. Jahrhundert bilden imperiale Überformung, Krieg, ethnische Homogenisierung, Völkermord, Diktatur – und mit ihnen Flucht und Exil als dauerhaft wiederkehrende Realie. Entsprechend präsent ist das Thema, dicht die narrative Tradition, reich die bereitliegende Motivik: Ein bemerkenswert großer Teil ost(mittel)europäischer kanonischer Literatur ist auf die eine oder andere Art „exulantisch“.
Zweitens führt die Flucht frappierend oft ins Eigene. Zwar figurieren Alteritätserfahrungen, Entfremdung und Zurückweisung prominent. Doch sind die erwähnten „Sprachwechsler mit Vorkenntnissen“ kein Zufall. Die Protagonisten bewegen sich und ihre Figuren in einem euro-atlantischen intellektuellen Kontinuum – schlagend ins Bild gebracht von dem aus Prag nach Paris und ins Französische ausgewichenen Milan Kundera in seinem Mitteleuropa-Essay Un occident kidnappé. Wo sie ankommen, sind sie fremd – aber nicht so fremd, dass sich nicht rasch mit ähnlich Gestimmten eine gemeinsame Sprache finden ließe. Und sei es zum Streit, wer wen verraten habe oder arrogant missverstehe.
Insofern wäre sehr zu fragen, ob bestimmte häufig auftauchende ästhetische Verfahren: das Ineinanderblenden von Orten und Personen, eine Poetik des Fragmentarischen und hyperkonkreter Benennungszwang, der die Fragmente obsessiv sammelt, ordnet, katalogisiert, inventarisiert und darüber erinnert, phantastisch überhöht und kunstvoll montiert – ob also solche im Kern nostalgischen Verfahren tatsächlich in erster Linie dem Sujet der Flucht geschuldet sind. Oder ob dieses Mapping des Verlorenen, des Flüchtigen, nicht einem allgemeinen Selbstbefund der Moderne dient – dem auch Flucht und Vertreibung eher Metapher als Thema sind.
Mit der Dritten Globalisierung indes heißt in der Region über Flucht zu schreiben vermehrt auch Fliehen nach Osteuropa zu reflektieren. So werden in Jáchym Topols Roman „Die Schwester“ (Sestra, 1994) nicht nur die Tschechen durch die Welt geweht, nach Berlin unter anderem, sondern ebenso Fremde angeweht in Prag: „[…] in unseren Erdgeschossen und Kellern gab es ein kleines Initiationslager für die Laoten ... und Bastardbohemia kriegte ’ne frische Dröhnung Asien in seine verkalkten Venen.“
In Topols Erzählung einer postnational entsicherten Welt sind Flüchtlinge Teil und Bild dieser Entsicherung, aber auch einer neuen „Megarasse aus den Untergrund“ der während des 20. Jahrhunderts doppelt entmischten Stadt Prag, einer Stadt ohne ihre Juden und ihre Deutschen. Insofern handelt es sich um Imaginationen einer von multidirektionalem Entrinnen amorph geprägten, zur Geschichte ihres Orts beziehungslosen, unsentimental gegenwärtigen Gesellschaft. Auch hier verweist das Fliehen-Motiv über sich hinaus.
Colloquium_Alfrun_Kliems.pdf