Veranstaltung: Juli 2024

Fr
19.7.24
19.30 Uhr

WRITING HISTORIES
There’s hardly time for the business of poetry • 19.7.2024, 19:30

Event-Picture: WRITING HISTORIES <br> There’s hardly time for the business of poetry • 19.7.2024, 19:30

Lesung & Gespräch

Wie schreibt sich Geschichte in die Dichtung ein – und wie gehen Dichter:innen mit Spuren kollektiver oder individueller Erinnerung um, wenn sie sich mit den transgenerationalen Traumata ganzer Gesellschaften beschäftigen? Was passiert in der poetischen Arbeit mit historischen Quellen und wie verändert die Imaginationskraft der Poesie dabei die Erfahrbarkeit von Geschichte? Writing Histories stellt vier Dichter:innen vor, die in ihren Texten tief in die Geschichte zurückgehen und ihre vielfältigen Auswirkungen bis in die Gegenwart hinein ergründen.

Sylvie Kandé (geboren 1957 in Paris) ist eine französische Dichterin, sie lehrt Afrikanische Geschichte in den USA. Auch in ihrem lyrischen Werk wird die Vergangenheit auf vielfältige Weise zum Gegenstand ihres Interesses. So beschäftigt sie sich mit dem transatlantischen Menschenhandel oder ruft die übergangene Geschichte senegalesischer Einheiten in Erinnerung, die im Dienste der Französischen Armee in den beiden Weltkriegen aufgerieben wurden.

In ihrem vielfach ausgezeichneten Langgedicht „Die unendliche Suche nach dem anderen Ufer“ (Matthes & Seitz 2021) kehrt Kandé zunächst ins 14. Jahrhundert zurück und beschreibt in mehreren Varianten die Atlantiküberquerung des malischen Herrschers Abubakari II. Dichtung wird zum Ort der Reimagination von Geschichte, historisch und visionär zugleich. Es sind vielstimmige, reich orchestrierte Texte, die in einem Atemzug etwa mit Saint-John Perse und Derek Walcotts homerischen Werk „Omeros“ genannt werden. Im abschließenden Teil dieser neo-epischen Erzählung wird vergangene Geschichte gegenwärtigen Flucht- und Migrationsgeschichten gegenübergestellt. Kandé sagt: „Das Epos ist nicht nur eine Gattung, sondern vor allem der Ausdruck eines mit Fantasie begabten Geistes“.

Die ukrainische Dichterin Marianna Kijanowska (geboren 1973 in Nesterow, heute Schowkwa, Oblast Lwiw) schreibt in ihrem Gedichtband „Babyn Jar. Stimmen“ (Suhrkamp Verlag 2024, deutsche Übersetzung: Claudie Dathe) über die Kriegsverbrechen der deutschen Wehrmacht während des Zweiten Weltkrieges.

Babyn Jar ist eine Schlucht in der Nähe Kyjiws, dort wurden im September 1941 innerhalb von zwei Tagen mehr als 33.0000 Jüd:innen getötet. 67 Gedichte, die zusammen einen Zyklus ergeben, lassen Stimmen der Vergangenheit in der Fiktion lebendig werden, Opfer und Tatzeug:innen, die in großer Unmittelbarkeit zu den Leser:innen sprechen. Das Buch, das schon jetzt zu den wichtigsten Werken der ukrainischen Gegenwartsliteratur gezählt wird, gab Anlass zu vielen Diskussionen: Darf man im Namen von Tatzeug:innen sprechen, ohne Tatzeugin gewesen zu sein? Der Dichter Serhiy Zhadan schreibt, es gehe in dem Buch um Mechanismen, die es den Stimmen anderer, den Stimmen vieler Menschen, ermöglichen, durch die Dichterin, durch ihre Zeilen zu erklingen.

Die mexikanische Lyrikerin und Literaturwissenschaftlerin Sara Uribe (geboren 1978 in Querétaro) wurde 2018 mit ihrem Buch „Antígona González“ (hochroth Verlag 2022, deutsche Übersetzung: Chris Michalski) international bekannt. In den Texten dient die mythische Figur der Antigone, die ihren Bruder Polyneikes nach dessen gewaltsamem Tod gegen alle Widerstände bestatten will, als Folie. Sie erscheint bei Uribe im modernen Gewand, im Lichte unterschiedlicher Deutungsmöglichkeiten. Den aktuellen Hintergrund dieser Texte bildet das spurlose Verschwinden zahlloser Menschen in Mexiko und das beharrliche Schweigen von offizieller Seite. Der Anfang des Buchs, die „Anleitung zum Zählen von Toten“, formuliert einen Imperativ moralischen Handelns: „Halt die Erinnerung an die Gestorbenen wach.“ Das Schreiben wird zu einem Akt des Benennens einer Abwesenheit und Dichtung zu einem Ort, an dem man seine Toten betrauern darf. Jede Suchende ist Antigone, jeder nicht geborgene Tote ihr Bruder Polyneikes.

In den Texten der rumänischen Dichterin Miruna Vlada (geboren 1986 in Bukarest) formieren sich Stimmen zu einem Chor. In dem 2014 erschienen Band „Bosnien. Gütertrennung“ (deutsche Übersetzung: Ernest Wichner) sind es Frauen, die im Bürgerkrieg des ehemaligen Jugoslawiens zu Opfern geworden sind. Für Vlada, die Bosnien als eine Art Adoptivland betrachtet, ist das Werk Gedicht und Geschichte zugleich. Es handelt sich um Nachrichten aus dem „zerbrochenen herzen Europas“, sie erzählen von den Massakern in Foča und Tuzla, wissen um die Allgegenwart des Verdrängten: „bei jeder berührung geht ein tod an uns vorüber“. Diese Texte sind brutal und zärtlich zugleich, immer direkt, manchmal angriffslustig, zum Beispiel, wenn die Schauspielerin Angelina Jolie angesprochen wird, die 2011 einen gutgemeinten Spielfilm über den Bosnienkrieg drehte: „o, du, liebe Lara Croft, mutter meiner trauernden nation, adoptiere michschenk mir aus den hilfsgütern ein paar kilo katzenfutter“

 

Moderation: Irina Bondas

Die Veranstaltung wird englisch-deutsch gedolmetscht. Mit freundlicher Unterstützung von ECHOO Konferenzdolmetschen

Projektleitung: Timo Berger

Mit Kandé, SylvieKijanowska, MariannaUribe, SaraVlada, Miruna

Gefördert durch: 

Instituto Cervantes Berlin, Institut Français, Rumänisches Kulturinstitut. Das poesiefestival berlin ist ein Projekt des Haus für Poesie in Kooperation mit dem silent green Kulturquartier und der Akademie der Künste und wird gefördert durch den Hauptstadtkulturfonds.

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Ort:
silent green Kulturquartier
Kuppelhalle

Gerichtstr. 35, 13347 Berlin


Eintritt:
9/7 €


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