Das 22. poesiefestival berlin feierte online die Poesie Europas
Die Online-Ausgabe des 22. poesiefestival berlin (11.–17. Juni) ist gestern Abend erfolgreich zu Ende gegangen. Unter dem Motto Da liegt Europa präsentierte das Festival gemeinsam mit 150 KünstlerInnen aus rund 40 Ländern auf der Festivalwebsite poesiefestival.org ein umfangreiches digitales Programm mit Lesungen, Gesprächen, Konzerten und Workshops. Im Zentrum der diesjährigen Festivalausgabe stand die Poesie Europas, von deren Warte aus die politische, kulturelle und sprachliche Vielseitigkeit Europas ambivalent untersucht, ihre Schmerzstellen aufgespürt und das Verbindende im Vielfachen gesucht wurde.
Klaus Lederer, Senator für Kultur und Europa des Landes Berlin, eröffnete am Freitag in einem filmischen Grußwort das Festival: „Den Titel des Festivals verstehe ich nicht nur als einen inhaltlichen Hinweis, dass es in diesem Jahr um die Auseinandersetzung mit der Vielstimmigkeit Europas geht, sondern auch als das Kennzeichen eines Festivals, eines temporären Ortes, an dem Menschen unterschiedlicher Herkunft zusammenkommen, durch Übersetzungen von Texten ein Austausch ermöglicht wird und Wissen übereinander entsteht, über die Gegenwartslyrik und weit darüber hinaus.“
Barbara Gessler, Head of Unit Creative Europe bei der Europäischen Kommission, plädierte in ihrem Grußwort dafür, „Identitäten nicht zu bedrohen, sondern zu bereichern und zu erweitern; Kunst und Kultur nicht zu vereinheitlichen, sondern die Auseinandersetzung mit ihren Unterschieden zu ermöglichen; Gemeinsamkeiten zu entdecken und in dieser Vielfalt zusammenzuwachsen.“
Für Weltklang – Nacht der Poesie, der vielstimmigen Eröffnung des Festivals, lasen und performten DichterInnen aus allen Teilen der Welt in ihren Muttersprachen: Ichiko Aoba (JPN), Ben Lerner (USA), Hannah Lowe (GBR), Valzhyna Mort (BLR/USA), Chus Pato (Galicien/ESP), Marieke Lucas Rijneveld (NLD), Marko Tomaš (BIH), Peter Waterhouse (AUT) und Judith Zander (DEU).
Am Samstag nahm das Forum unter dem Titel Europas Vielfalt hat keine Haut den Sprachenreichtum Europas als Ausgangspunkt, um sich der kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Realität des Kontinents von sprachlicher Seite zu nähern. In seinem Vortrag plädierte Can Dündar für eine Positivdeutung europäischer Multikulturalität und Vielsprachigkeit und nahm auch den Kulturbetrieb in die Pflicht: „Jede und jeder, der/die im kreativen Bereich tätig ist, hat eine Verantwortung. Diese Anstrengung kann zeigen, dass eine Entwicklung, die wie ein Problem wirkt, eigentlich eine Chance ist, dass Unterschiede die Erde nicht verwüsten, sondern ganz im Gegenteil: bereichern. Sie kann die Ängste in der Gesellschaft auffangen; die politische Einkapselung in ein Sich-nach-außen-Öffnen wenden. Sie kann ein Europa gemischter Identitäten schaffen.“ In einer anschließenden Diskussion ging es um Ambivalenzen des europäischen Sprachenreichtums sowie Übersetzungsaufgaben für die EU. DichterInnen ‚kleiner‘ Sprachen lasen abschließend ihre Lyrik und sprachen über das Verhältnis ihrer Sprachen zu den ‚großen‘ Sprachen.
Besondere Aufmerksamkeit galt in dieser Festivalausgabe auch den Spracharchipelen Europas: Die Vielsprachigkeiten fünf europäischer Räume – Spanien, Post-Jugoslawien, das Baltikum, Rumänien und der Raum um das Kaspische Meer – wurden hinsichtlich Sprachenpolitik und -nationalismus, Identität und Dichtungstradition in fünf Veranstaltungen in den Fokus gerückt.
Die Künstlerinnen Mira Mann (DEU) und Rosaceae (DEU) stellten am Samstagabend ihre audiovisuellen Arbeiten vor: Beide Künstlerinnen arbeiten ästhetisch wie inhaltlich mit Grenzen, Figurationen des Widerstands sowie klanglichen Aspekten verschiedenster Dominanzstrukturen. Mira Mann stellte die Single „Atlantic City“ (eine deutschsprachige Interpretation des Springsteen-Songs) vor sowie „Schau mich an“, den Titelsong ihrer gleichnamigen EP. Rosaceae präsentierte drei Songs von ihrem neuen Album „DNA“, das im August veröffentlicht wird.
Die Berliner Rede zur Poesie hielt in diesem Jahr der Berliner Dichter und Künstler Johannes Jansen. In seiner Rede mit dem Titel „Ergebnis einer Isolation“ entwarf Jansen in 34 Prosaminiaturen eine Poetik des Ausnahmezustands. Im Wallstein Verlag erschien parallel die Rede in deutschem Original und in der englischen Übersetzung von Shane Anderson.
Kuratiert von dem Schriftsteller Fiston Mwanza Mujila nach einer Idee des Hauses für Poesie erscheint im Sommer 2021 im Wunderhorn Verlag eine Anthologie, die 33 schwarze europäische DichterInnen in deutscher Übersetzung versammelt. Vier von ihnen – Johannes Anyuru (SWE), Radna Fabias (NLD), Roger Robinson (GBR) und Victoria Adukwei Bulley (GBR) – und Herausgeber Fiston Mwanza Mujila (AUT) kamen im Festival unter dem Titel Unerhörte Poesie: Das schwarze Europa zu einem Gespräch über Poesie und die Bedeutung von Schwarzsein zusammen. Das Projekt wird über den Verlag Bloodaxe auch seinen Weg nach England finden. Verlage weiterer Länder haben ebenfalls Interesse bekundet.
Der belarussisch-deutsche Übersetzungsworkshop VERSschmuggel versammelte sechs belarussische und sechs deutschsprachige DichterInnen, die sich in Zoom-Sessions mit Hilfe von Interlinearübersetzungen gegenseitig übersetzten und zum Festival Einblick in ihre gemeinsame Arbeit gewährten. Gerade angesichts der aktuellen politischen Situation in Belarus erscheint es wichtiger denn je, auf anderen Ebenen als der politischen bilaterale Beziehungen zu intensivieren. Der belarussische Dichter Dmitri Strozew über die Erfahrungen im Workshop: „Als Künstler, als Übersetzer komme ich gerade nicht drum herum, auf die Texte von einem anderen Autoren nicht das zu übertragen, was mich zutiefst bewegt: meine Besorgnis, meine Unruhe, mein Erleben der belarussischen Katastrophe.“
In Queer-Bodied Voices sprachen die Dichter*innen Jay Bernard (GBR), Eduard Escoffet (ESP), Judith Kiros (SWE), Jacek Dehnel (POL), Anna Hetzer (DEU) und Ricardo Domeneck (BRA) über Körper, Poesie und Identität – in Anbetracht der Tatsache, dass in vielen Ländern Europas die Akzeptanz nicht-heteronormativer Sexualitäten und Identitäten steigt, andernorts die politische und gesellschaftliche Diskriminierung jedoch zunimmt.
Im Bereich der Poetischen Bildung fanden zahlreiche Workshops für Kinder, Jugendliche und LyrikvermittlerInnen statt sowie die Abschlusslesungen der 25 jungen DichterInnen aus den Lyrikwerkstätten young poems und open poems. Von Anfang Juni bis zum Ende des Festivals konnten zudem alle BesucherInnen gemeinsam an einem kollektiven Kettengedicht zum Thema Da liegt Europa: Edition 2031 schreiben. Das Ergebnis wurde auf der Festivalwebsite veröffentlicht.
Zum Abschluss präsentierte das Festival den Dichterabend #8: Abendmahl der Abwesenden, eine Performance, kuratiert von Yoko Tawada. In einer Installation der Künstlerin Chiharu Shiota (JPN/DEU) lasen die DichterInnen Yoko Tawada (JPN/DEU), Marion Poschmann (DEU), Ursula Krechel (DEU), Ulf Stolterfoht (DEU) und Jan Wagner (DEU) ihre Texte. MusikerInnen reagierten auf diese Poesie und interagierten mit ihr, so dass die Kunstformen, die in der Pandemiezeit getrennt sind, zum Abschluss des Festivals wieder zusammenkamen.
Das vollständige Festivalprogramm bleibt weiterhin online auf poesiefestival.org: Dort sind 70 schriftliche Interviews, Anthologiebeiträge und Essays kostenlos abrufbar. Die Videoproduktionen sind über eine Paywall zugänglich: Tickets zum Preis von 3€ sowie Festivalpässe für nur 19€ ermöglichen noch zwei Monate lang Zugang zu den Produktionen.
Als analoger Teil des Festivals werden Poets‘ Corner, Literaturexpress Europa – Re:Writing a Myth sowie das Chansonkonzert Labo(r)Labé mit Agnès Guipont und die lyrix-Preisverleihung im September 2021 stattfinden.
Das 22. poesiefestival berlin ist ein Projekt des Hauses für Poesie in Kooperation mit der Akademie der Künste. Gefördert aus Mitteln des Hauptstadtkulturfonds und des Auswärtigen Amts. Mit freundlicher Unterstützung durch die Alfred Ritter GmbH & Co. KG und das Goethe-Institut. Präsentiert von Der Freitag, taz, BÜCHERmagazin, tip Berlin/ EXBERLINER, rbbKultur, Deutschlandfunk Kultur, ASK HELMUT und SINN UND FORM.